Der österreichische Schriftsteller Georg Biron über Joseph Roth und die Stadt Wien:


BAROCK AROUND THE CLOCK

"Wie gut doch Frau Kiepenheuer dieser Maimorgen steht", sagte Stefan Zweig zu seinem Freund Joseph Roth. Die Verlegersgattin lachte geschmeichelt, und Roth, ein gefürchteter Charmeur, antwortete: "Haben Sie sie schon einmal an einem Septemberabend gesehen?" Bewundernd schüttelte Zweig den Kopf: "Daran sieht man wieder einmal, was für ein großer Dichter Sie sind!" Joseph Roth zuckte mit den Schultern und seufzte: "Was für eine schöne Geschichte könnte man daraus machen, wenn wir jetzt nicht trinken gehen müssten..."
Die Männer von Wien sind von unermesslicher Trauer erfüllt. Diese Tragik steht ihnen ins Gesicht geschrieben und macht an manchen Tagen ihren Reiz aus. Die Sentimentalität umgibt sie wie eine goldene Wolke. Wien ist, auch für die Wiener selbst, eines der großen Rätsel dieser Welt geblieben, rätselhafter noch als die Frauen (vor allem die Frauen aus Wien), und die Plakate, die der Bürgermeister an allen Einfahrten zur Stadt hat anbringen lassen, können zwar den Anreisenden als Warnung dienen, nicht aber als Entschuldigung – und schon gar nicht als Erklärung: Der Slogan »Wien ist anders!« hat etwas rührend Hilfloses an sich.
Haben Sie etwa vor, demnächst die alte Kaiserstadt an der Donau zu besuchen und etwas über die Männer Wiens in Erfahrung zu bringen? Vielleicht sogar im Herbst, wenn es dort am schönsten ist? (Rundherum verblüht und verwelkt alles, und Wien zeigt sich von seiner besten Seite. Auch das ist sehr typisch für diese morbide Metropole.) Lassen Sie sich von mir einen Rat geben: Bleiben Sie zu Hause. Sie werden in Wien nicht finden, wonach Sie suchen. Das garantiere ich Ihnen. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich lebe in der Hauptstadt eines ehemaligen Weltreichs, und niemand kann so schön "Grüß Gott!" sagen wie wir. Wir sind die Indianer Europas und wandern durchs Reservat der vergebenen Chancen. Wir haben Heimweh nach der Zukunft und wissen: Es gibt auf der ganzen Welt kein einziges Projekt, das nicht schon mindestens einmal in Wien gescheitert wäre.
"Manchmal weiß ich nicht: Bin ich ein Mensch oder ein Wiener?" hat der alte Helmut Qualtinger einmal zu mir gesagt. Und: "Die Wiener sind gar nicht so faul, wie die Deutschen oft glauben. Sie stehen gerne sehr früh auf, auch wenn sie am Vortag g’soffen haben, und dann machen sie ihre Arbeit – nur am Nachmittag, da werden sie langsam müde. [...]"
Menschen machen Fehler – besonders wenn sie Touristen sind, die sich in den Kopf gesetzt haben, an ihrem Ziel etwas ganz Besonderes zu finden. »Machos« zum Beispiel... Schlagen Sie das Wiener Telefonbuch auf, dann werden Sie massenhaft auf den Namen Macho stoßen; der ist hier nichts Ungewöhnliches und passt genauso ins Register wie die Jedlickas, die Swobodas oder auch die Meiers (mit »a« oder mit »schiefem I« geschrieben). »Matschos« allerdings, wie man sie aus südlicheren Teilen der Welt kennt, werden Ihnen in den Reihen der echten Wiener nicht begegnen. [...]
Mit Matschos können wir also beim besten Willen nicht dienen. Um ein Matscho zu sein, braucht es relativ wenig Tiefgang im Bewusstsein und eine Lust auf das Zurschaustellen des Äußeren, und echte Wiener lieben weder das eine noch das andere. Sie brauchen den Tiefgang im Gespräch genauso dringend wie ihr tägliches Quantum Alkohol, aber sie sind auch im nüchternen Zustand durchaus ernst zu nehmende Philosophen mit einem ausgeprägten Hang zum Austrobuddhismus; sie schätzen das Barocke eher als die Askese – und das gilt vom Herrn Hofrat im Amt bis hinunter zum Straßenkehrer an der Ecke.
Wien ist eine Stadt der Emigranten, doch die wahren Wiener Emigranten sind nicht die, die ihre Koffer packen und abreisen. Die wahren Emigranten sind die, die bleiben. Wer bleibt, und so einer bin beispielsweise ich, der lebt hier im Exil. Ich habe Heimweh nach Wien, WENN ich in Wien bin. Verlasse ich die Stadt, verliere ich das Heimweh. Dieser Wasserkopf der Alpenrepublik, das fidele Grab an der Donau, diese überaus geliebte und zugleich vielfach so gehasste Stadt, gilt Eingeweihten als Bedürfnisanstalt der Seele, in der man so manches Wirrwarr nicht ordnet, sondern es einfach zwischen zwei Sätzen hinunterspült. Der Klügere kippt eben nach.
"Noch nie hat einem Alkoholiker der Genuss des Alkohols so wenig gefallen wie mir", sagte Roth, der wie kein anderer den Eigenheiten der Wiener Seele auf der Spur und vom Exzess der letzten Nacht noch gezeichnet war. Er deutete an, er könnte mit dem Trinken vielleicht aufhören; andererseits aber sagte er mit diesen traurigen Augen, mit denen er immer wieder die schönsten Frauen erobern konnte: "Ich komme mit der Welt nicht zu Rande. Ich verlange zuviel, von mir literarisch, von den anderen menschlich. Ich verstehe nicht, wie soviel Böses im allgemeinen geschieht, und dass dies möglich ist, macht mir die einzelnen verdächtig. Ich wittere Unrat und Verrat. Ich kenne, glaube ich, die Welt nur, wenn ich schreibe, und wenn ich die Feder weglege, bin ich verloren. Der Alkohol ist keine Ursache, sondern eine Folge..." Vor Jahren hatte ein Freund zu ihm gesagt: "Roth, Sie müssen viel trauriger werden. Je trauriger Sie sind, umso schöner schreiben Sie." Ich möchte Sie also warnen: Die legendäre Stadt an der Donau, seit jeher eine Brutstätte zweifelhafter Ideale und verlogener Verliebtheiten, hat schon so manchen buchstäblich verschluckt. Die verschwanden ohne ein Zeichen im alkoholischen Nebel, der überall vorhanden, aber nicht gleich sichtbar ist – obwohl er doch jede noch so schmale Gasse in weiches Licht packt. [...] Es gibt wohl keine andere europäische Großtadt, in der das Trinken so sehr zur Alltagskultur gehört.
"Es kommt nicht darauf an, zu dichten. Das Wichtigste ist das Beobachtete", notierte Roth als Vorbemerkung zu seinem Heimkehrer-Roman »Die Flucht ohne Ende«. Der Dichter sah die Dinge immer anders als die anderen. Oft waren seine Reportagen radikale innere Monologe. Was nicht in sein Konzept passte, sah er einfach nicht. Und das ist oftmals auch heute noch eine fatale Eigenart des Wienerischen »Point Of View«.
Roths Eigenheit, eine Geschichte für eine Zeitung im Kaffeehaus zu recherchieren, schilderte ein polnischer Journalist: "Ohne zu wissen, dass er sich hier aufhielt, begegnete ich ihm zum ersten Mal nach langen Jahren. Er saß auf einer Caféterrasse, zart und schmächtig, die ewige Zigarette im Mund, und schaute sich in der Welt um..." In Wahrheit versuchte Roth damals, das für ihn Zeit seines Lebens ungeklärte Wesen der Frauen zu ergründen. Seine Notizen tragen den Vermerk: »Aus eigenen Erfahrungen«.
"So lange man jung ist", schrieb Roth, "glaubt man, man müsse, um die Frauen zu kennen, mit möglichst vielen schlafen. (Das ist ein Irrtum auch der reiferen Romanciers oder ihre Ausrede vor den eigenen Frauen.) Wenn man älter wird, schläft man mit einigen Frauen, um sich zu überzeugen, dass es immer dieselbe ist." Roths Bild von den Frauen geriet düster: "Außerdem ist der Mann immer in einer faulen Lage. Denn weil bei ihm aus natürlichen Gründen der Coitus immer einen Höhepunkt bedeutet, glaubt er, der Coitus sei auch die ganze Enthüllung der betreffenden Frau. Es ist bemerkenswert, dass die meisten Männer selbst angezogen bleiben, während sie die Frauen ausziehen. Die Männer verlieren die Geduld und haben keine Zeit mehr, sich selbst zu entkleiden. Indessen verbirgt eine nackte Frau immer noch mehr als ein Mann im Pelzmantel. Für sie ist der Coitus so selbstverständlich, dass er eher einen Anfang als ein Ende bedeutet. Sie gibt sich den Männern nicht, um zu erfahren, sondern um die Neugier zu befriedigen. Und während sie geil aussieht, ist sie nur neugierig. Es ist viel leichter, mit einer Frau als aus ihr einen Menschen zu machen. Sie ist nämlich nur ein Gefäß für Menschen. Wie aber macht man doch einen Menschen aus einer Frau? Indem man (1.) sie nicht liebt, (2.) sie nicht liebt, (3.) sie nicht liebt. Wenn man sie aber doch liebt? – Dann kann man nix machen!"
Haben Sie etwa vor, die alte Kaiserstadt an der Donau zu besuchen und etwas über die Männer in Erfahrung zu bringen? Und wollen Sie herausfinden, ob die Wiener Machos sind? Sagen Sie bitte nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt: Die Wiener sind Wiener. Und aus!

Mehr vom Autor unter: www.biron.at

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FÜNF ADRESSEN, WO MAN "ECHTE WIENER" TRIFFT


— »Restaurant Muskovich«, skurriles Gasthaus (So, Mo geschl.) mit manchmal unglaublichen Szenen; Wien 17, Hernalser Hauptstraße 70; Telefon: 405 83 15 — »Mayer am Pfarrplatz«, romantischer "Heuriger" (Weinlokal mit Buffet) im denkmalgeschützten Beethoven-Haus; Wien 19, Pfarrplatz 2; Telefon: 370 12 87 — »Kleines Café«, winziges Kaffeehaus mit Musik, Szene-Treff des Schauspielers Hanno Pöschl; Wien 1, Franziskanerplatz; kein Telefon — »Weinhaus Wild«, Bier, Wein und Hausmannskost in urigem Ambiente beim Kunsthaus; Wien 3, Radetzkyplatz 1; Telefon: 712 57 50 — »Eden Bar«, elitäre Bar (Krawattenzwang) mit Live-Musik, die von Qualtinger besungen wurde; ab 22.00 Uhr; Wien 1, Liliengasse 2; Telefon: 512 74 50

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